Europa nach der Wahl
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- 03. Juni 2019
Mit den Europawahlen vor gut einer Woche hat sich die politische Unsicherheit für Kapitalanleger um einen Faktor verringert. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, an welchen Stellen offensichtliche Risiken für die heimischen Aktien- und Anleihemärkte lauern.
Europa interessiert und bewegt wieder! Das lässt sich zumindest aus der deutlich gestiegenen Beteiligung an den Europawahlen ableiten. Mit 50,2% (+7,1 Prozentpunkte gegenüber 2014) wurde der höchsten Wert seit 25 Jahren erreicht. Noch deutlicher ist der Sprung von 48,1 auf 61,5% in Deutschland ausgefallen. Auch wenn die Gründe unterschiedlicher Natur sind, kann das gestiegene „Engagement“ der 427 Millionen Wahlberechtigten sicherlich als positives Zeichen aus der Abstimmung mitgenommen werden. Schließlich besteht nur bei den Bürgern, die sich mit der Europäischen Union auseinandersetzen – und die Teilnahme an den Wahlen ist zumindest ein Schritt in diese Richtung – überhaupt die theoretische Möglichkeit, sie von der Alternativlosigkeit eines gemeinsamen Europas zu überzeugen.
Mehr Einkommen durch EU-Binnenmarkt
So haben die Deutschen laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung allein durch den EU-Binnenmarkt 86 Mrd. Euro mehr Einkommen im Jahr. Angeführt wird die Liste dabei von einigen Regionen Bayerns mit knapp 1.500 Euro Einkommensgewinn pro Kopf. Deutlich weniger profitieren die neuen Bundesländer vom EU-Binnenmarkt. Europaweit steigert der gemeinsame Markt die Einkommen der EU-Bürger um rund 840 Euro pro Person. Dabei fallen die Einkommensgewinne in der Regel umso höher aus, je stärker Industrie und Exportbranchen in einer Region verankert sind, wie Dominic Ponattu, Wirtschaftsexperte der Bertelsmann Stiftung und Mitautor der Studie erläutert. Verhältnismäßig kleine aber exportstarke Nationen profitieren stärker als die großen Volkswirtschaften, das Zentrum Europas hat einen höheren Nutzen als die EU-Mitglieder im Süden oder Osten des Kontinents. Letztendlich gewinnen aber alle Regionen, selbst die ländlichen Gebiete Bulgariens, Rumäniens und Griechenlands (120 bis 500 Euro pro Kopf), die noch dazu von überdurchschnittlich hohen Regional- und Strukturförderungen aus EU-Mitteln profitieren.
Neben diesen rein binnenmarktbezogenen Vorteilen wird immer offensichtlicher, dass sich der weltweit größte Wirtschaftsraum ohne intensive Zusammenarbeit gegenüber anderen Ländern, Regionen und Bündnissen – allen voran China und den USA – politisch und wirtschaftlich nicht wird behaupten können. Umso wichtiger ist es, europaweit an einem Strang zu ziehen. Diesbezüglich haben uns die Wahlen nicht unbedingt vorangebracht, wobei es auch deutlich schlechter hätte ausgehen können.
Zwischen Klimawandel und Populismus
So mussten die großen Volksparteien wie erwartet deutlich Federn lassen. Die EVP (Christdemokraten), zu der u.a. die CDU und die CSU gehören, haben 37 Sitze verloren (-4,9 Prozentpunkte), bei den Sozialdemokraten (S&D) sind es sogar 41 Sitze weniger (-5,5 Prozentpunkte). Mit zusammen 43,4% verfügen die „klassischen Volksparteien“ damit bei weitem nicht mehr über die absolute Mehrheit. Zukünftig dürfte es somit noch schwerer werden, mehrheitsfähige Positionen zu finden und wichtige Ämter zu besetzen.
Zulegen konnten die Liberalen (+5,5 Prozentpunkte), zu denen auch die Bewegung Emmanuel Macrons „La République en Marche“ gehört, sowie die Grünen/EFA (+2,3 Prozentpunkte), die jeweils uneingeschränkt zu den europafreundlichen Parteien zu rechnen sind. Dabei kommt fast ein Drittel der Grünen/EFA aus Deutschland. Umweltthemen werden zukünftig deshalb sowohl hierzulande, wie auch EU-weit eine größere Rolle spielen. Zum einen dürften die anderen Parteien die Brisanz dieses Themas erkannt haben, gleichzeitig haben die deutschen Wahlsieger aber auch bereits angekündigt, bei der Wahl des Kommissionspräsidenten insbesondere auf dessen umweltpolitische Ausrichtung abzustellen.
Die EVP wird an dieser Stelle versuchen, ihren Spitzenkandidaten Manfred Weber (CSU) durchzusetzen. Sollte dies gelingen, dürften die Chancen Jens Weidmanns auf die Nachfolge Mario Draghis als EZB-Präsident endgültig ad acta gelegt sein. Zwei derartige Führungspositionen wird man Deutschland keinesfalls zubilligen. Im Sinne einer stabilitätsgetriebenen Notenbankpolitik, die in ferner Zukunft auch mal wieder positive Realzinsen ermöglichen könnte, wäre ein nichtdeutscher Kommissionspräsiden insofern wohl von Vorteil.
Die Rechtspopulisten und die Rechtsextremen werden im neuen Parlament zwar einige Sitze mehr haben als bisher, trotz Siegen in einzelnen Ländern ist der von vielen befürchtete dramatische Rechtsruck aber ausgeblieben. Dies lässt darauf hoffen, dass die Europaskepsis bzw. -ablehnung größerer Bevölkerungsteile ihren Höhepunkt erreicht hat. Ohne entsprechende Bemühungen der verantwortlichen Politiker wird der Glaube an die gemeinschaftliche Idee Europas gleichwohl nicht zurückkehren.
Großbritannien und Italien bereiten besondere Sorgen
Grundsätzlich sind weitere Abstriche bei der Handlungsfähigkeit allerdings nicht das einzige Risiko für die Aktien- und Anleihemärkte, welches mit den Europawahlen offenkundig geworden ist. So hat in Großbritannien die EU-feindliche „Brexit-Partei“ 31,6% der Stimmen geholt. Parteichef Nigel Farage, der als EU-Abgeordneter seit vielen Jahren gegen die Europäische Union kämpft, leitet daraus ein Mitspracherecht bei möglichen neuen Austrittsverhandlungen mit Brüssel ab. Als zweitstärkste Kraft erweisen sich mit 20,3% die proeuropäischen Liberaldemokraten. Die Konservativen der scheidenden Premierministerin Theresa May sowie die Labour Party erlebten mit 9 bzw. 14% dagegen Wahldebakel der übelsten Sorte. Damit spricht einiges dafür, dass Borris Johnson oder ein anderer strikter Brexiteer die Nachfolge Mays als britischer Regierungschef antreten wird. Neben dem zunächst ohnehin zu erwartenden erneuten Stillstand im Trennungsprozess wird sich dadurch das Risiko eines ungeordneten Austritts Großbritanniens aus der EU deutlich erhöhen, was laut Schätzungen der Deutschen Bank mit einem um 0,6 Prozentpunkte verringerten Wirtschaftswachstum in der Eurozone verbunden wäre. Unserer Einschätzung nach ist dieses Risiko an den europäischen Aktienmärkten derzeit kaum eingepreist.
Auch bezüglich Italiens gibt die weitere Stärkung der antieuropäischen Haltung zu denken. So ist mit 34,3% erstmals die rechtsnationale Lega aus einer landesweiten Wahl als stärkste Kraft hervorgegangen. Die Fünf-Sterne-Bewegung musste einen schweren Rückschlag hinnehmen. Die Gewichtsverhältnisse in der römischen Koalition haben sich damit umgekehrt. Dass sich Matteo Salvini dadurch in seinem aggressiven Auftreten gegenüber der EU bestätigt sieht, zeigen seine Kommentare nach der Wahl. Die weitere Ausuferung der italienischen Schuldenpolitik ist damit vorprogrammiert. Der Konflikt mit der EU-Kommission dürfte bereits bei der demnächst anstehenden Überprüfung der italienischen Haushaltssituation wieder aufbrechen. Noch hält sich die Rendite der zehnjährigen Staatsanleihen allerdings bei 2,7% und damit deutlich unter dem 5-Jahres-Hoch vom vergangenen Oktober (3,7%).